Mark Watson ist ein Romanautor, der in England auch als Kolumnist, Radio- und Fernsehmoderator sowie als Stand-Up Comedian Kultstatus genießt. Wörtlich schrieb ich 2011, dass ich inständig auf weitere ins Deutsche übersetzte Bücher von ihm hoffe. Ein bißchen habe ich warten müssen, was möglicherweise mit der Suche nach einem neuen Verlag zusammenhing. Aber nun bin ich zufriedengestellt, Überlebensgroß ist da und im Juli erschien zudem als Taschenbuch eines der ersten Bücher Watsons auf Deutsch, Rückwärtsleben. .
Man ahnt es, meine Erwartungshaltung also war überlebensgroß und das ist nie fair. Fazit vorab: Überlebensgroß hat mich nicht ganz so gepackt wie Elf Leben. Es mag daran liegen, dass der Schreibstil Watsons mir schon vertrauter war und mich nicht mehr so überraschen konnte. Möglicherweise aber auch daran, dass Watson in Überlebensgroß ein ganzes Füllhorn von Themen über den Leser ausschüttet, in Summe vielleicht ein bißchen arg viel für knapp 400 Seiten. Es geht um Familie, um Liebe, um Freundschaften, um das Alter, um Alzheimer, um unerfüllte Sehnsüchte, in Summe darum, dass nicht sein kann, was nicht sein darf, im Überbau gibt es noch ein fein gezeichnetes Zeitbild des Lebens kleiner Leute in den 60ern dazu. Dennoch ist es ein Buch, welches lange nachwirkt und eine uneingeschränkte Empfehlung bekommt.
CoverDownload von Randomhouse.de |
Dominic entdeckt früh seine Leidenschaft für die Fotografie. Sein Brot verdient er als Hochzeitsfotograf und hält so die glücklichsten Momente im Leben anderer Menschen fest, während Glück für ihn selbst unerreichbar scheint. Die Kunst der Fotografie ist für ihn auch die Möglichkeit, der Unsichtbare zu bleiben, der Mann hinter der Kamera, den man meistens nicht zur Kenntnis nimmt. Günstig für ihn, denn Dominic baut nach außen zwar eine Scheinwelt auf, die gesellschaftlichen Normen entspricht, doch er wird getrieben von einer unerlaubten, unerhörten Sehnsucht, von der keiner je erfahren darf. Und genau an dieser Stelle bricht hier mit Absicht die Inhaltsangabe ab, denn es wäre wirklich schade, dem Leser das dunkle Geheimnis zu verraten und ihn so des - ohne Übertreibung - wirklich schockierenden und unerwarteten Momentes zu berauben. Nur soviel: Mark Watson bricht da ganz en passant eins der letzten Tabus, ein Tabu, über das auch jenseits sämtlicher existierender Feuchtgebiete nicht gesprochen wird.
Im Original heisst das Buch the Knot - der Knoten und auch wenn mir hier ausnahmsweise einmal der deutsche Titel besser als das Original gefällt, passt natürlich der Verweis auf den Knoten ganz gut. Dominic ist erfüllt von einer Sehnsucht, die niemand billigen würde oder verstehen könnte. Einer Sehnsucht, die ihm den Hals zuschnürt und einen Knoten in seinem ganzen Lebensentwurf knüpft, den er niemals wird auflösen können, der nicht einfach mit einem Klick auf den Auslöser zu entwirren ist. Auch nicht in der Aufarbeitung.
Mark Watson ist für seine Experimentierfreude auf allen Gebieten bekannt, auch für Unerschrockenheit und klare Worte. Des gilt umso mehr für Überlebensgroß. Er schreibt in einer schönen, klaren, flüssig zu lesenden Sprache, hat dabei aber einen ganz eigenen Stil. Nur auf den ersten Blick wirken seine Sätze leicht, wie hingeworfen. Auf den zweiten Blick ist er ein Meister der Lakonie, verbunden mit viel Empathie für seine Charaktere und deren Geschichten. Er ist komplett unerschrocken, packt Themen an, denen die meisten Schriftsteller sich nicht einmal nähern würden. Gelegentlich hat er einen leichten Hang zum Pathos, doch da er nie kitschig wird, schadet das aber nicht. Im Gegenteil - dadurch werden seine Geschichten nachempfindbar und das vorher so leicht und lakonisch Hingeworfene trifft den Leser mit voller Wucht.
Es sind die Gegensätze, derer sich Mark Watson gerne bedient. So geht der Schluß des Romans einerseits tief zu Herzen, andererseits befreit er Dominic und mit ihm den Leser mit dem Wagnis eines alle Konventionen verletztenden unerhörten Befreiungsschlags.
Mark Watson ist ein Ausnahme-Sschriftsteller. Auch wenn ich elf Leben immer noch den berühmten Tacken besser fand, ist auch Überlebensgroß weit lesenswerter als so ziemlich alles, was derzeit als Bestseller hochgejazzt wird, mir tausendmal lieber als das zigste Remake von Forrest Gump, Love Story oder ziemlich beste Freunde. Sorry, aber das war mir jetzt ein Anliegen. Dazu demnächst mehr.
Ein freundlich gemeinter Rat zum Schluss: Wenn Sie ein Mann sind, schenken Sie dieses Buch NICHT ihrer Schwester. Jedenfalls nicht, ohne es vorher gelesen zu haben. Glauben Sie mir.
Mark Watson
Überlebensgroß
397 Seiten im Hardcover
auch als E-Book, Hörbuch oder Audio-Download
Heyne Verlag, München
ISBN 978-3-453-43712-8
*Elf Leben gibt es mittlerweile im Heyne Verlag, die dort verlegte Taschenbuchausgabe trägt den Titel Ich könnte am Samstag