Samstag, 13. Oktober 2012

Dolce vita am Lago -der wilde Süden der Schweiz


Der wilde Süden der Schweiz ,
so der Titel einer Arte-Dokumentation über das Tessin (im Rahmen eines Themenabends " Dolce Vita am Lago Maggiore,lief vor knapp zwei Wochen.)
Wild ? Die Schweiz ? Das Land in der Mitte unseres Kontinents, bekannt für Schokolade , Pharma und phantasievolle Blogger und das einzige Land Europas, in dem man öffentliche Toiletten nutzen kann. Wild ? Wild ist an und für sich das letzte Adjektiv, das mir im Zusammenhang mit weiten Teilen des Tessin einfallen würde.
Kaum einer meiner " Orte der Sehnsucht " mag in mir ähnlich ambivalente Gefühle erwecken wie Ascona und umliegende Dörfer.
SANY0175
Wild war Ascona wohl nur am Anfang des letzten Jahrhunderts, als sich auf dem Monte Verita eine der weltweit ersten und bis heute auch berühmt-berüchtigten Künstlerkolonien etablierte. Bis in die fünfziger Jahre hinein war Ascona Treffpunkt berühmter freier, teils auch exilierter Geister. Hermann Hesse, Remarque, Schmidt-Rothluff , Mary Wigman und viele andere mehr, sie alle erfüllten den Ort mit Leben und Kreativität. Und heute: Das verlorene Paradies der Boheme, so las ich neulich. Eine Melange aus Schönheit und Banalität. Perfekte Infrastruktur, exzellenter touristischer Service, verkehrsberuhigte Zonen, pittoreske Städtchen plus Sonne, Palmen, ein tiefblauer See, schneebedeckte Berge, es wirkt ein bißchen wie die Computersimulation eines Touristikunternehmens. Es ist wohl der Eroberung durch Spekulanten, Hochstapler, Baulöwen, Unternehmerfamilien, Stahlbarone und vor allem der Eroberung durch den Luxus-Tourismus zu verdanken, dass dem Ort viel von seiner Einzigartigkeit und seinem Charme genommen wurde.
In eingangs erwähnter Dokumentation ist es Max Frisch, der von Ascona leicht bitter, leicht bedauernd als Talentgrab und Altersheim
spricht, die Gruft urbaner Träume wohlbetuchter Senioren.
Heute erscheint die Idylle oftmals dermassen überzuckert, dass ein bekannter Kolummnist dieser Tage schon argwöhnte, die über den Golfplatz huschenden Eichhörnchen würden " von hinter Büschen versteckten tamilischen Asylbewerbern an Angelschnüren über den Platz geschleift ( Jan Weiler im Stern 35/07 ) In's Bild passen die auf der Piazza flanierenden enorm Blasierten, denen, wenn schon nicht die ganze Welt , so doch wengistens das Tessin zu gehören scheint, es passen die Angeber-Karossen, die zugegeben wunderschönen Riva Boote, der Hafen der Patrizier und nicht zuletzt die in Europa wohl einzigartige Dichte an gehobenster Hotellerie und Gastronomie. In jüngster Zeit sind deutliche Bemühungen erkennbar, Ascona für die jüngere Schickeria attraktiv werden zu lassen , aber ich bezweifle, dass diesen Bemühungen angesichts der vielfältigen globalen Konkurrenz großer Erfolg beschieden sein wird. ( Ist auch besser so )
Eigentlich wäre gerade Ascona ein idealer Ort für Familienferien:
eine erträglich lange Anreise, der ruhige schöne Lago, das öffentliche Bagno Publico, der Lido mit tollen Angeboten, grossartige Spielplätze, das milde Klima, die umliegenden Valli, die gerade auch für
grössere Kinder ein toller Abenteuerspielplatz sind und, und und.
Wenn es nicht so enorm teuer dort wäre, so enorm, dass die meisten Familien wohl noch nicht einmal von einem Urlaub dort träumen können und wenn nicht die Asconaspezifische Klientel Kindern und Familien , egal ob Touristen oder Einheimische, immer wieder klarmachen würde,
dass sie Störenfriede im weichgespülten Paradies sind.
Wirklich wild sind heute nur noch die Täler, das Centovalli sowie natürlich das berühmte Verzasca Tal mit ihren atemberaubenden Schluchten, ihren rauen Dörfern, den riesigen Granitfelsen, Wasserfällen, unberechenbaren Strömungen, mit grossartigen architektonischen Kleinoden wie den Kirchen von Mario Botta .Mein Lieblingstal bleibt das Teil der Maggia, in das sich schon Max Frisch auf der Flucht vor der allgemeinen Lethargie und dem Ascona-typischen Phlegma zurückzog.
Jedoch, vielfältige Bindungen, Beziehungen, Erinnerungen, die teilweise schon in der Kindheit entstanden, führen mich, uns immer wieder dorthin.
Ungetrübt aller Einwände ist es uns immer noch gelungen, die Wochen , die wir im Tessin verbringen dürfen, gemeinsam mit unseren dort lebenden Freunden und der Familie zu geniessen, und uns daheim im Ruhrpott heimlich immer wieder dorthin zurück zu sehnen.