Donnerstag, 5. März 2020

Unterleuten - Vor-und Rückschau

"Mit Unterleuten habe ich alles gegeben, was ich konnte, um einen Gesellschaftsroman für unsere Zeit zu schaffen" bekannte Juli Zeh 2016 in einem Interview*, kurz bevor ihr mit Spannung erwarteter Roman "Unterleuten" erschien.

Ich erinnere mich, wie neugierig mich damals diese gleichermaßen demütige und selbstbewusste Ankündigung machte. Zum einen lese ich Frau Zeh immer gerne, zum anderen ist das Genre Gesellschaftsroman in der Tat mein liebstes. Fazit vorab: Juli Zeh hat das Genre zwar nicht neu erfunden, aber sie hat es neu belebt. "Unterleuten" ist ein großartiger Gesellschaftsroman, einen besseren wird man in deutscher Sprache in diesem Jahrtausend nicht finden.

Nicht weniger als 11 Hauptpersonen gönnt sich Juli Zeh für ihren Roman, die einzelnen Kapitel sind aus den unterschiedlichen Perspektiven dieser Personen erzählt. Dazu kommt die übergeordnete Erzählerin, die sich erst im letzten Kapitel zeigt und die Geschehnisse resümiert. (Dies im übrigen die einzige Meta Ebene, die sich im Buch selber zeigt. Aber nicht die einzige Meta Ebene im Zusammenhang mit diesem Buch, wie sich nach Veröffentlichung zeigte. Doch dazu später.)

Das Geschehen spielt im fiktiven Dorf mit doppeldeutigem Namen: "Unterleuten" in Brandenburg, nicht weit weg von Berlin, aber doch ein ganz andere Welt. Unberührte Natur, seltene Vogelarten, Pittoreske pur, aber die Idylle täuscht. Das Dorf wird beherrscht von einem unsichtbaren und nur den Alteingesessenen verständlichen und für sie logischen Beziehungsgeflecht, welches die Geschicke der Dorfbewohner maßgeblich bestimmt. Sie wissen genau, wer wem einen Gefallen schuldet, nutzen diese als die einzige Währung, die zählt und schaffen eine Art rechtsfreien Raum. So haben sie es in der DDR gehalten, so halten sie es heute.

Zugezogene Stadtflüchtige wie der Vogelschützer Gerhard Fließ und seine kleine Familie haben es da schwer. Sie wollen ihr bisheriges Leben hinter sich lassen, statt an ihm zu verzweifeln, kaschieren durch geschickte Deko aber lediglich, dass sie in diesem Leben noch nichts wirklich auf die Beine gestellt haben. Nun sitzen sie bei Tag und Nacht hinter runtergelassenen Rollos, weil ihr Nachbar unablässig giftigen Müll auf seinem Schrottplatz verbrennt. Sie wissen weder, warum er es tut - vielleicht als Strafe für etwas, das sie getan haben, ohne sich einer Schuld bewusst zu sein - noch, wie sie es stoppen können.  

Besser arrangiert sich da die Pferdeflüsterin Linda Franzen, die in Unterleuten ein Gestüt von internationalem Renommee aufbauen will, widerwillig unterstützt von ihrem Lebensgefährten, der eigentlich lieber in der Küche eines Berliner Start-Ups Computerspiele entwirft. Linda orientiert sich am Werk des Motivators Manfred Gortz "Mein Erfolg" und handelt ganz nach der Maxime "Wer eine Situation inszeniert, ist ihr Herr".  Die Widerstände um sie herum lassen sie völlig unbeeindruckt, ihre Nachbarn hält sie für Menschen, die noch während des Weltuntergangs die Ellenbogen auf die Gartenzäune stützen und Sätze wie "irgendwas ist immer" sagen.

In diese fragile Gesellschaft fällt eines Tages eine der gefürchteten "Heuschrecken" ein. Einen Windpark will er errichten, für einige winkt schneller Reichtum. Schnell bekommen die potentiellen Verkäufer der geeigneten Grundstücke den Hass der Dorfbewohner gratis dazu. Die Zugezogenen erkennen die schon in der Großstadt verhassten Mechanismen wieder und stellen sich gegen diese "sich selbst subventionierende Gutmenschenbürokratie", die Alteingesessenen wehren sich dagegen, dass die Randgebiete "zur Rumpelkammer der Zivilisation" verkommen.

"Unterleuten" stellt die große Frage unserer Zeit: Gibt es noch, kann es noch ein Miteinander, eine Moral geben jenseits von Eigeninteresse? Das Dorf dient dabei als komprimierter Mikrokosmos, die handelnden Personen sind exemplarisch und lassen sich überall beobachten - ebenso wie die Geringschätzung von Prinzipien und moralischen Werten. Die Unterleutener sind getrieben von Verlustängsten, sie fürchten ihre Tradition, ihre Heimat zu verlieren und haben doch allzu oft einfach nur Angst vor Veränderung. Für sie bedeutet Veränderung in erster Linie "Ungeheuerlichkeiten in immer neue Gewänder zu kleiden".  Am Ende kämpft in Unterleuten jeder für sich - allen geschlossenen Allianzen zum Trotze. Sie alle wollen immer nur "das Beste". Doch schon die Frage danach, was denn das Beste sei, bringt das Schlimmste in den Menschen hervor. Es geht in "Unterleuten" nur vordergründig darum, wie schnell der Traum vom Landleben zum Albtraum wird oder um den ewig schwelenden Konflikt zwischen Wendegewinnern und Wendeverlierern. Juli Zeh zeigt mustergültig, wie ungeheuer fragil ein Miteinander ist und wie schnell es bedroht wird, ja sogar in Gewalt zu eskalieren droht, wenn Einzelne ihre Interessen bedroht sehen. 

Die Thematik und die Handlung erscheinen auf den ersten Blick als Lesestoff schwer verdaulich. Doch weit gefehlt: Selten so gut auf so hohem Niveau unterhalten worden. Juli Zeh hat einen formidablen Rundumschlag geschafft. Kaum ein Thema unserer Zeit, welches nicht Eingang in den Roman gefunden hat. Umso bewundernswerter die Leichtigkeit, mit der Juli Zeh komprimiert und spannend erzählt. Die Perspektivwechsel gelingen ihr außerordentlich gut. Es gelingt ihr,  kompromisslos die Sichtweise jedes einzelnen Charakters darzustellen und dennoch die Handlung entschlossen voran zu treiben. Jedes Kapitel, jede Perspektive ist in sich schlüssig, der Leser bringt all ihren Protagonisten das gleiche Verständnis respektive Unverständnis entgegen. Was den Leser zum Schluss in sicher gewollter Verwirrung verharren lässt. Jeden kann man verstehen in seinen Beweggründen und man selbst kann die Frage nicht beantworten, zu wem man gehalten hätte. Aber man kann die verstehen, die sich scheuen,  die "toxische Frage nach Schuld oder Unschuld" zu stellen. Juli Zeh selbst enthält sich jedweden Urteils. Sie wertet nicht, sie erzählt es "nur". Dies aber durchaus verständnisvoll, keine menschliche Neigung ist ihr fremd.
   
So versteht sie auch die Neigung des Lesers, nach Fortsetzung zu verlangen. Auch wenn diese in Romanform wohl ausgeschlossen sein dürfte. Dafür ist "Unterleuten" zu gut in sich abgerundet.    Aber - um nun zurückzukommen auf die auf den ersten Blick und bei bloßer Lektüre des Buches nicht erkennbaren Meta-Ebenen - man konnte (und kann) sich ganz prima noch eine Weile nach Lektüre in diesem Internet und in diversen Feuilletons amüsieren ob der Frage nach Schein oder Sein.

Denn natürlich musste man als begeisterter Leser nach Lektüre erstmal schauen, ob es das von Linda Franzen so episch zitierte Werk des Manfred Gortz überhaupt gibt. Es gibt es. Irritiert fragt man sich aber doch, ob Juli Zeh neben all ihren anderen Fähigkeiten auch das Talent zur Zeitreise entdeckt hat. Ist "Mein Erfolg" doch erst 2015 erschienen und Juli Zeh hat nach eigenem Bekunden über 10 Jahren mit Unterbrechungen an "Unterleuten" gearbeitet. Wie kann sie da dauernd dieses Werk zitieren? Oder hat sie auf den letzten Metern alles kurzentschlossen umgeschrieben? Und überhaupt ist das nicht schon nahe dran an Copy and paste? Hat Juli Zeh etwa plagiiert? Das frage nicht ich, das fragten aufgeregt diverse renommierte Feuilletonisten.

Derweil twitterte Manfred Gortz genüßlich vor sich hin, veröffentlichte auf Youtube eine Stellungnahme - den Schal passend zur Gesichtsfarbe - in der er sich ganz und gar entzückt davon zeigte, von Juli Zeh so expressiv zitiert worden zu sein. Man will ja auch den Verlagsfrieden nicht stören, ist "Mein Erfolg" doch unter demselben Dach wie "Unterleuten" erschienen. Blöd halt, dass er Interviews nur per Mail gab und dabei auch noch mit einiger Chuzpe "Cybris" (ein Fake-Buch von Sascha Lobo und Volker Weidermann, welches 2015 für etliche Schlagzeilen sorgte) als Lieblingsbuch empfahl. Trotz aller investigativer Bemühungen diverser Rechercheure war auch leider keiner zu finden, der Manfred Gortz jemals kennengelernt, geschweige denn, eines seiner Seminare besucht hat.

Dazu kommen die Webseiten des Vogelschutzbundes Unterleuten mit der Überschrift "Bei uns piept's" und die Seite des Unterleutener Gasthauses "Märkischer Landmann", der gerade Fischeintopf im Angebot hat. Ins Impressum der Webseiten guckt man dabei besser nicht, Denn -  will man es wirklich so genau wissen? Will man zum "Killjoy" werden, jener Typus, den Linda Franzen und Manfred Gortz so verachten - der Typ, der anderen den Spaß verdirbt, weil er selbst keinen hat. Nein, das will man nicht. Den Spaß an Unterleuten verlängert die Websuche allemal. Zitieren wir die Autorin ein letztes Mal: "ich dachte, alles was im Internet steht, existiert auf alle Fälle" . Ein Schelm, der bei dem Ganzen an eines der Frühwerke Juli Zehs denkt: Spieltrieb.

Und nun kommt also die Verfilmung als serieller Dreiteiler im ZDF. Ab dem 09.03.2020 linear, in der Mediathek bereits verfügbar. Ulrich Noethen, Dagmar Manzel, Charly Hübner, Alexander Held - der Cast liest sich vielversprechend. Regie führte Matti Geschonnek - ein Name, der zumindest für solides Fernsehen steht. Fast 280 Sendeminuten könnten knapp gereicht haben. Die ersten Kritiken der Vorabschauer sind denkbar schlecht. Ich bin auch zugegebenermaßen skeptisch, für welche Tiefe die Verfilmung gereicht hat. Aber ich werde sicher reinschauen. Und berichten. Im schlimmsten Fall gönnen wir einfach der begabten Juli Zeh diese Finanzspritze. Auf dass die Verfilmung hoffentlich genug Geld in ihre Kasse spült, damit sie ohne Sorge neue Werke für ihre treue Leserschaft schreiben kann. Denn anders als etliche ihrer Unterleuten-Protagonisten ist die promovierte Juristin Zeh derzeit im Interesse des Gemeinwohls ehrenamtlich unterwegs. Auf Vorschlag der SPD-Landtagsfraktion Brandenburg wirkt sie als ehrenamtliche Richterin am Verfassungsgericht des Landes Brandenburg. Hut ab.       

*Zitat Juli Zeh im Interview des Buchjournal eins.2016 des deutschen Buchhandels

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Meine Rezension zu Unterleuten erschien am 09. Mai 2016 in der Literaturzeitschrift.de und wurde für diese Nachbetrachtung in einer leicht geänderten Version erneut publiziert.

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